Klänge eines Kontinents

Gastbeitrag von Nicolas Bock

Läuft man einmal quer durch den Lesesaal, betritt einen Gang links neben der Ausleihtheke und geht durch die Flure des IAI, findet man sie in der Ecke des Gebäudes: die Phonothek des Ibero-Amerikanischen Instituts. Hier lagern Tonträger eines gesamten Jahrhunderts der lateinamerikanischen Musikgeschichte, von Schellackplatten aus dem Jahre 1903 bis zu moderner lateinamerikanischer Musik. Alle Länder der iberoamerikanischen Welt, alle Genres und alle Arten von Tonträgern, in der Gesamtzahl fast 38.000, sind hier vertreten. Kubanische Salsa, argentinischer Tango, Corridos aus Mexiko, Naturgeräusche und ethnologische Tonaufnahmen aus dem Amazonas – die Vielfalt der Sammlung ist außerordentlich.

Ein Musiktyp, der die Geschichte Lateinamerikas über die Zeit hinaus begleitet wie kein anderer, ist jedoch die Musik der Revolutionen und der linken Bewegungen. Als Kontinent, in dem fast jedes Land mindestens eine Militärdiktatur erdulden musste, welcher bis heute ein großes Sozialgefälle aufweist und auf so viele Revolutionen und Guerillakriege ausgerufen und ausgefochten wurden, begleitet diese Art der Musik die Region bis heute – quer durch Zeit, Raum und Genres. Beim Arbeiten mit den Beständen des IAI oder beim Durchforsten der Kataloge fallen einem immer wieder Schallplatten oder CDs in die Hände, deren Aufmachungen und Titel Zeugen dieser Bewegung sind.

Eine Häufung an Revolutionsliedern und deren Interpreten trat in den 70er und 80er Jahren auf, als in fast allen Ländern Lateinamerikas entweder Militärdiktaturen herrschten oder Revolutionen ausbrachen. Einige Interpreten übten über Ländergrenzen und Kontinente hinweg eine enorme Strahlkraft aus. Der vielleicht berühmteste von ihnen war der chilenische Kommunist und Sänger Victor Jara, der 1973 während Pinochets Militärputsch ermordet wurde. Seine Musik wurde im gesamten lateinamerikanischen Raum rezipiert und die von ihm mitbegründete musikalische Strömung der Música Nueva weltbekannt. Das IAI besitzt Schallplatten aus seinen Anfängen, wie die folkloristische Platte Cantos y danzas de la Zona Central seiner anfänglichen Gruppe Conjunto Concumén, mit vielen Liebesliedern, aber auch solistische Platten wie das Album Canto por travesura. In seinen Liedern, zumeist poetischer Natur und zu leicht melancholischer Gitarrenmusik vorgetragen, besingt Jara soziale Probleme und Ungleichheiten, formuliert Anklagen an Politik und Gesellschaft und vertont dabei seine Liebe zu Chile und seiner Bevölkerung.

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Platten und CDs wie Tributo a Victor Jara oder Konzert für Victor Jara aus dem Jahre 1998, in denen chilenische Interpreten wie Inti Ilimani und Isabel Parra, aber auch deutsche Sänger wie Hannes Wader oder Hamid Baroudi in Gedenken an Victor Jara spielen, zeigen Inspiration und Wirkung weltweit.

Ähnlich und doch anders stellt sich die Musik des berühmtesten nicaraguanischen Sängers und Liedermachers Carlos Mejía Godoy dar. Auch seine Musik lässt sich der Música Nueva zuordnen, sie war ebenso wie die Musik Jaras folkloristischer Natur, jedoch transportierte er in seinen Liedern eher die in der jungen nicaraguanischen Revolution vorherrschende Aufbruchsstimmung. Vielfach als die Stimme der sandinistischen Bewegung und Partei FSLN (Frente Sandinista de Liberación Nacional) wahrgenommen, sang er Lieder über die Helden der Revolution (Comandante Carlos Fonseca, Las mujeres del Cua), den Kampf gegen die Somoza-Diktatur (No se me raje mi compa, La consigna) und allgemein über Nicaragua als Land, in dem während der Revolution alles möglich erschien (Nicaragua nicaragüita). Einige dieser Lieder erfreuen sich heute noch größerer Beliebtheit im Lande oder sind fest in das Repertoire der Volkslieder Nicaraguas eingegangen.

Anhand von Kopien, Neuauflagen oder durch die sandinistische Revolution angeregten Platten aus der Bundesrepublik und der DDR lässt sich überdies das Interesse und die Verbundenheit sowohl des sozialistischen deutschen Staates als auch der linken westdeutschen Bewegung mit der Revolution nachzeichnen. So befinden sich unter anderem Platten wie Nikaragua, einer Amiga-Schallplatte der VEB Dt. Schallplatten, aber auch die Platte Lieder zur Alphabetisierungskampagne in Nicaragua des Wuppertaler Informationsbüros Nicaragua e.V. im Besitz der IAI-Phonothek. Auf beiden ist Carlos Mejía Godoy ausgiebig vertreten, in der letzteren Platte unter anderem mit seinem Lied Himno de alfabetización.

Oftmals eher am Rande von Forschung und Lehre angesiedelt, führt Beschäftigung mit der lateinamerikanischen Revolutions- und Protestmusik zu Kenntnissen über Zeitgeist und Ideen der linken Bewegungen in Lateinamerika, jenseits von Manifesten und Büchern. Wer den Kontinent Lateinamerika, seine Menschen, seine Identität und seine Probleme kennenlernen und verstehen möchte, der sollte sich seine Musik anhören. Ein großer Teil davon befindet sich in den Räumen hinter dem Lesesaal, in der Phonothek des IAI.