Zu Gast in Campeche – Interview mit unserer Buchbinderin Olga Andreesen zu ihrem Aufenthalt in Mexiko

Olga Andreesen ist im Ibero-Amerikanischen Institut (IAI) für die Erhaltung von Büchern zuständig. Mit viel Energie und Leidenschaft fertigt die Buchbinderin Kassetten für besondere Formate an, stärkt brüchige Seiten, repariert Buchblöcke und bereitet Bücher für die Benutzung vor. Kürzlich durfte Frau Andreesen ihren üblichen Arbeitsplatz vorrübergehend gegen eine andere Arbeitsumgebung eintauschen: Vom 27.3. bis zum 16.4.2019 war sie zu Gast in Campeche (San Francisco de Campeche), der Hauptstadt des gleichnamigen Bundesstaats im Südosten Mexikos, wo sie die Mitarbeiter*innen der Bibliothek der Universidad Autónoma de Campeche bei der Einrichtung einer Buchbindewerkstatt unterstützte. In einem Interview ließ uns Olga Andreesen an ihren Erfahrungen in Campeche teilhaben.

Bibliothek der Universidad Autónoma de Campeche

Olga, Du warst für drei Wochen auf Dienstreise im mexikanischen Campeche. Wie kam der Kontakt mit der Universidad Autónoma de Campeche zustande?

Der Kontakt zur Universidad Autónoma de Campeche (UAC) entstand über Dr. Iken Paap, Archäologin am IAI, die seit 2012 im Rahmen des DFG-finanzierten Forschungsprojekt zu Dzehkabtún, einer Ruinenstätte der prä-bis endklassischen Mayakultur im Norden von Campeche, eng mit den Kolleg*innen der UAC zusammenarbeitet. Bisheriger Höhepunkt der Kooperation zwischen diesen Forschungsinstitutionen war die Ausstellung „Der Blick des Archäologen: Fotografien aus dem Nachlass von Román Piña Chán“, die vergangenes Jahr in Berlin gezeigt wurde. Während dieser Ausstellung wurde auch ein Kooperationsvertrag zwischen der UAC und dem IAI abgeschlossen, bei dem es um gemeinsame Projekte im archäologischen Bereich einerseits, andererseits aber auch um eine verstärkte Zusammenarbeit beider Bibliotheken geht. Da die Bibliothek der UAC bislang noch über keine eigene Buchbinderei verfügt, war die Bestandserhaltung ein Bereich, in dem aus Sicht der mexikanischen Kolleg*innen eine engere Kooperation wichtig erschien. An der Planung, Unterstützung und Durchführung der Reise waren dann verschiedene Personen maßgeblich beteiligt: Auf Seiten der UAC unterstützten Lic. Enna Verónica Lara Gamboa, Hauptkoordinatorin der Bibliotheken der UAC, und Dr. Ivan Urdapilleta Caamal, Koordinator der Historischen Sammlungen an der UAC, die Reise. Beide haben im letzten Jahr auch gemeinsam mit Dr. Iken Paap die erwähnte Ausstellung vorbereitet und den Vertrag unterzeichnet. Im IAI haben mich Dr. Ricarda Musser, die Leiterin des Medienreferats am IAI, und Dr. Iken Paap intensiv unterstützt. Ohne die Mithilfe und das Engagement der genannten Personen wäre die Reise sicherlich nicht zustande gekommen. Finanziert wurde die Reise aus Mitteln der Programmpauschale des genannten archäologischen Projektes (Deutsche Forschungsgemeinschaft), die Sachkosten vor Ort übernahm die Universidad Autónoma de Campeche.

Olga Andreesen

Was waren Deine Aufgaben vor Ort?

Das zentrale Ziel war es, in Campeche den Grundstein für die Einrichtung einer eigenen Buchbindewerkstatt zu legen. Das betraf zum einen die materiellen Grundlagen, also die Vorbereitung von Geräten und Instrumenten, die für die Buchbinderei benötigt werden, sowie die Sichtung geeigneter Räumlichkeiten und notwendiger Materialien. Zum anderen habe ich für die dortigen Kolleg*innen einen Buchbindekurs durchgeführt. Lernziele des Kurses waren die Vermittlung von Grundkenntnissen in der Materialkunde, im Umgang mit Werkzeugen und Geräten sowie der Basistechniken des Buchbindens.

Die Handarbeit mit Büchern erfordert jede Menge Präzision, aber auch eine genaue Kenntnis über die erforderlichen Materialien und ihre Bezeichnungen. Ich denke da an Begriffe wie Falzbein, Spindelpresse, Hülse, Runden, Falzen, Heften, für die mir spontan keine spanischen Übersetzungen einfallen. War es angesichts dieses spezifischen Fachvokabulars eine Herausforderung, den Kurs auf Spanisch zu halten?

Tafelbild zum Aufbau eines Buches

Auf jeden Fall! Das ist ja schon nicht einfach, wenn man die gleiche Sprache spricht, aber keine Kenntnisse von der Materie hat. Und ich bin selbst keine spanische Muttersprachlerin, so dass ich mit meinen Spanischkenntnissen, aber auch mit einschlägigen Wörterbüchern aus dem Bibliotheks-bereich oftmals an meine Grenzen stieß. Da half nur eine intensive Vorbereitung. Für manche Begriffe gab es im Spanischen jedoch gleich mehrere Übersetzungs-möglichkeiten, aber im Laufe des Kurses konnte schließlich doch alles geklärt werden. Doch nicht nur bei den Übersetzungen mussten wir improvisieren.

Inwiefern?

Ein mit Zement gefüllter Wasserkanister dient als Gewicht

Ich hatte bereits im Vorfeld eine Liste geschickt, in der die für die Grundausstattung einer Buchbindewerkstatt notwendigen Geräte, wie beispielsweise Pressen und Gewichte, aufgeführt waren. Doch nicht alle Materialien konnten vor Ort besorgt werden, da es in Campeche kein Fachgeschäft für Buchbindematerialien gibt. In der mexikanischen Hauptstadt findet sich zwar ein solches Geschäft, Mexiko-Stadt liegt allerdings mehr als 1000 km entfernt und das Geschäft selbst hat recht üppige Preise. Da heißt es, Prioritäten setzen und improvisieren. Wir haben dann die Pressen vor Ort hergestellt und mit Zement gefüllte Wasserkanister als Gewichte benutzt. Bei der Suche nach Alternativen konnte ich immer auf die Unterstützung der mexikanischen Kolleg*innen setzen. Der Kreativität waren da keine Grenzen gesetzt, selbst die in Mexiko populären Tacos hatten für uns einen großen Nutzen.

Tacos und Bücher? Das klingt nicht gerade nach einer guten Kombination.

Das Essen selbst hat natürlich bei der Bearbeitung und Benutzung von Büchern nichts zu suchen. Wohl aber das spezielle Papier, in das dieses mexikanische Fast-Food für den Verzehr eingewickelt wird. In Campeche war dieses Papier der perfekte Ersatz für Zeitungspapier, das hier in Deutschland als Makulatur verwendet wird und für Bindearbeiten unerlässlich ist. In Mexiko allerdings – das war uns zuvor nicht klar – war das Zeitungspapier hierfür jedoch gänzlich ungeeignet, da es zu viel Druckerschwärze abgab. Eine ganze Weile lang haben wir nach einer passenden Alternative gesucht und sie dann im Taco-Papier gefunden. 

Was war denn im Vergleich zu Deiner Arbeit in Deutschland noch anders?

Ein deutlicher Unterschied ist das tropische Klima in Campeche, wo die Temperaturen mitunter bis auf 40°C steigen können. Das Klima war nicht nur für mich persönlich sehr anstrengend – die derzeitigen sommerlichen Temperaturen in Deutschland sind im Vergleich zu Campeche fast kühl -, sondern auch die Bücherbestände werden durch das dortige Klima stark in Mitleidenschaft gezogen. Die hohe Luftfeuchtigkeit von 70 % ist ein perfekter Nährboden für Schimmelpilze, hinzukommt, dass Gebäudeteile den Regengüssen, die während der Regenzeit eintreten, nicht immer standhalten können und Wasser eindringt. Der Umgang mit so genannten Schimmelbänden war deshalb auch ein Thema während meines Aufenthalts. Die klimatischen Verhältnisse sind jedoch auch bei der Materialauswahl zu beachten: So ist zum Beispiel die Verwendung von Weizen-oder Reisstärkekleister, der in Deutschland weit verbreitet ist, in tropischen Gegenden ein absolutes Tabu, da dieser leicht schimmelt. Stattdessen wird dort bei Bindearbeiten mit Methylcellulose gearbeitet. Die hohen Temperaturen bewirken auch, dass man beim Trocknen viel weniger Zeit benötigt, weshalb die Reihenfolge einiger Arbeitsschritte neu bedacht werden muss.

Du kannst ja auf Bibliothekserfahrungen in unterschiedlichen Ländern zurückblicken: Begonnen hast Du in den 1980er Jahren in Russland, wo Du an der Universitätsbibliothek in Tomsk die erste Restaurierungswerkstatt aufgebaut hast. Seit 1998 bist Du am Ibero-Amerikanischen Institut als Buchbinderin tätig. Nun hast Du in Campeche noch einen anderen Bibliothekskontext kennengelernt. Abgesehen von den großen klimatischen Unterschieden gab es im Vergleich mit den anderen Ländern auch Gemeinsamkeiten und Berührungspunkte?

Es war mein erster Besuch in Campeche und in Mexiko insgesamt, aber die Bibliotheken in den drei Ländern sind doch sehr ähnlich. Sie haben mit vergleichbaren Problemen zu kämpfen und greifen zu ganz ähnlichen praktischen Lösungen, beispielsweise im Bereich des Notfallmanagements. Ebenso wurde mir in Campeche bewusst, was ich auch schon in Russland und in Deutschland erlebt habe: Bei der Bestandserhaltung geht es oftmals nicht (nur) um konservatorische und restauratorische Maßnahmen, sondern eher darum, ein Problembewusstsein für mögliche Risiken zu entwickeln, damit Bücher als Kulturgut nutzbar bleiben und für die Zukunft vor Schäden geschützt werden können. 

Wie war denn Dein Eindruck in Campeche? Gab es in der Bibliothek Interesse an Bestandserhaltung?

Mein Eindruck war, dass viele ein ausgeprägtes Interesse an Buchbindearbeiten hatten. Ich denke, das hängt auch damit zusammen, dass, wie auch die Ausstellung zu Román Piña Chán gezeigt hat, archäologische Forschungen und Ausgrabungsarbeiten ein wichtiger Bestandteil des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens in Campeche sind. Restaurator*in archäologischer Artefakte ist in Mexiko allgemein, und speziell in Campeche, ein weit verbreiteter und beliebter Beruf. Im Vergleich zu archäologischen Restaurator*innen gibt es jedoch in Campeche nur wenig Buchbindeexpert*innen. Interessierten bleibt so nur die Möglichkeit, sich autodidaktisch, beispielsweise mithilfe von Internettutorials, weiterzubilden. Dass diese kaum den praktischen Unterricht ersetzen können, zeigte sich dann während des Grundlagenkurses, denn Buchbinden erfordert handwerkliches Geschick, viel Übung und Geduld. Techniken müssen zudem ausprobiert und von Mensch zu Mensch korrigiert werden. Die acht Teilnehmer*innen in meinem Kurs haben sich dieser speziellen Herausforderung wirklich mit ganz viel Fleiß, Energie und Begeisterung gestellt. Dementsprechend stolz waren alle, ich selbstverständlich auch, als sie ihre ersten selbst gebundenen Bücher in der Hand hielten.

Gruppenbild mit den Teilnehmer*innen

Wie lautet denn Dein persönliches Fazit zu Deinem Aufenthalt in Campeche?

Der Aufenthalt in Campeche war für mich eine wirklich tolle Erfahrung: Ich wurde dort sehr warmherzig empfangen und bekam über die gesamte Zeit die denkbar beste Unterstützung – angefangen mit Dr. Iken Paap, die mich vor Ort begleitet hat, über das gesamte Bibliothekspersonal bis hin zur Hauptkoordinatorin der Bibliothek Lic. Enna Verónica Lara Gamboa und dem Leiter der historischen Sammlungen Dr. Ivan Urdapilleta Caamal. Zugleich war es für mich eine große Bereicherung, zu erleben, mit welcher Begeisterung und Leidenschaft, sich die mexikanischen Bibliothekskolleg*innen an dem Grundlagenkurs beteiligten. Ich denke, dass ich mit meinem Kurs die fachlichen Grundlagen zur Durchführung einfacher Reparaturen gut vermitteln konnte. Ob eine Buchbinderei in Campeche nun auch institutionalisiert und mit den notwendigen Ressourcen ausgestattet werden kann, werden wir weiterverfolgen. Der Bedarf ist definitiv vorhanden, die Begeisterung auch – und beide Seiten waren sich einig, dass die Zusammenarbeit beider Bibliotheken auch in Zukunft weitergeführt werden soll. 

Olga Andreesen und Dr. Ivan Urdapilleta Caamal

Vielen Dank, liebe Olga, für dieses Interview zum Aufenthalt in Campeche und die Einsichten in Deine Arbeit als Buchbinderin!

Die Fragen stellte Annika Hartmann, Bibliotheksreferendarin am Ibero-Amerikanischen Institut.

Kurzporträt Olga Andreesen

Olga Andreesen hat in Russland Geschichte studiert und kam über die Papierrestaurierung zu ihrer ersten Anstellung an der Universitäts-bibliothek in Tomsk, in Zuge derer sie die erste Restaurierungswerkstatt der Universitätsbibliothek aufbaute. 1994 zog sie nach Deutschland, wo sie die dreijährige Ausbildung zur Buchbinderin absolvierte. Nach dem erfolgreichen Abschluss fand sie 1998 Anstellung im IAI, wo sie seitdem in der Hausbuchbinderei tätig ist. Für all diejenigen, die sich in erster Linie auf den Buchinhalt konzentrieren, offenbart der Besuch in der Buchbindewerkstatt bei Olga Andreesen besondere Einblicke in die Herstellung und Erhaltung von Büchern. Dass Präzision, Geduld und Erfahrung maßgeblich sind, vermittelt sie Interessierten ebenso, wie die doch überraschende Erkenntnis, dass Papier häufig sehr viel widerstandsfähiger und reparabler ist als gedacht.