In unseren Sondersammlungen finden sich insgesamt 303 Nachlässe, die teilweise schon erschlossen und digitalisiert sind. Wir hoffen natürlich langfristig alle Materialien zugänglich machen zu können, aber selbst die vergleichsweise kleine Anzahl an inhaltlich erschlossenen Nachlässen bietet bereits interessante Anknüpfungspunkte für Untersuchungen aller Art. Exemplarisch soll hier der Nachlass Ehrenreich vorgestellt werden.
Paul Ehrenreich (1855-1914) studierte Medizin und Naturwissenschaften in Berlin, Heidelberg und Würzburg, promovierte schließlich 1880 in Berlin (Dr. med.). Nicht zuletzt durch den Einfluss von Rudolf Virchow entwickelte er jedoch schon während des Studiums Interesse für die anthropologischen Fächer (man bedenke, dass die „Völker- und Rassenkunde“ des 19. Jahrhunderts tatsächlich eher (pseudo)naturwissenschaftlich ausgerichtet war und somit der Medizin näher stand, als es die heutige Anthropologie tut). Über diesen Weg gelangte er schließlich zur Ethnolinguistik und zur vergleichenden Mythenforschung.
Seine Feldforschung führte ihn insgesamt vier Mal nach Südamerika (1884-1885 nach Zentral- und Ostbrasilien, 1887-1888 mit Karl von den Steinen auf die zweite deutsche Xingu-Expedition, 1888 in das Gebiet des Rio Araguaya und 1889 in das des Rio Puru). Außerdem bereiste er zwischen 1892 und 1893 Indien und Ostasien, sowie zwischen 1898 und 1906 Nordamerika und Mexiko. Auf diesen Forschungsreisen beobachtete er verschiedene Kulturen, sammelte ihre Überlieferungen, machte Bilder und führte Tagebücher. Seine Untersuchungen und Forschungsmaterialien wurden damals in Europa vielfach rezipiert und machten ihn zu einem der führenden Ethnologen seiner Zeit. 1895 promovierte er in Leipzig auch zum Dr. phil., wurde 1900 Privatdozent und 1911 Professor für Völkerkunde an der Universität Berlin. Sein Biograph Otto Zerries spricht daher von ihm auch als einem „der letzten universalen Geister um die Jahrhundertwende„.
Ethnographische Karte von Brasilien von Paul Ehrenreich (1891), digitalisiert von der University of Chicago.
Tatsächlich galt seine Begeisterung, vor allem in den letzten Jahrzehnten seines Lebens, hauptsächlich der Mythenforschung. Anhand seiner vergleichenden Analysen definiert er bemerkenswert detaillierte Kulturräume für den amerikanischen Kontinent und identifiziert bestimmte „Disseminationszentren“ für mythologische Motive. Er „bereinigt“ außerdem die ihm in schriftlicher Form vorliegenden Überlieferungen, indem er christliche Elemente isoliert, die er eindeutig auf europäische Missionstätigkeit zurückführt und als nicht authentisch betrachtet. Noch viel interessanter ist die Verknüpfung, welche er zwischen der (alt)amerikanischen Mythenwelt und der aus Ostasien vornimmt. Er erkennt beispielsweise zahlreiche Parallelen mit Motiven aus den japanischen Chroniken Kojiki und Nihongi, jeweils aus dem 7. und 8. Jh. unserer Zeit. Allerdings scheint er die Möglichkeit einer Polygenese gar nicht erst in Erwägung zu ziehen und geht von einer direkten Verbindung aus.
Wie Françozo (2007) zurecht hervorhebt, markieren die Quellen europäischer Ethnologen wie Ehrenreich – mit ihrer Betonung belastbarer und systematisch durch Feldforschung gewonnener Daten und ihrem kontrastiven Ansatz – einen Paradigmenwechsel in der (vor)wissenschaftlichen Beobachtung indigener Gesellschaften und Traditionen. In dieser Hinsicht heben sie sich deutlich vor allem von früheren, kolonialen Quellen ab, welche stark die Differenzen aus der Perspektive eines katholisch geprägten Menschen- und Weltbilds betonten oder gar überzeichneten. Hier sei erstmalig ein in erster Linie wissenschaftliches Interesse erkennbar, kein ideologisches. Leider ist aber auch Ehrenreich nicht frei von der kulturellen Hybris eines Europas, das sich auf dem Höhepunkt diverser imperialistischer Projekte befindet: „die primitive Mythologie der niederen Stämme [ist] noch ganz unabhängig von religiösen Vorstellungen und Motiven, wenn wir überhaupt unter Religion mehr verstehen als rohen Animismus und blosse Furcht vor Geistern und Naturdämonen in Verbindung mit Zauberglauben.“
Das IAI verfügt über viele Originalmaterialien von Paul Ehrenreich, von denen die meisten digitalisiert sind, darunter Reisetagebücher und einige seiner Publikationen. An dieser Stelle sei außerdem noch auf die Sammlung der Deutschen Digitalen Bibliothek mit etlichen Fotografien, sowie der Biblioteca digital Curt Nimuendajú verwiesen, mit Vokabularien indigener Sprachen und geographischen Karten.
Sobald die COVID-19-bedingten Einschränkungen wieder aufgehoben sind, können natürlich auch (noch) nicht erschlossene Nachlässe in unserem Lesesaal untersucht werden. Dafür einfach direkt mit der Abteilung unter legados@iai.spk-berlin.de Kontakt aufnehmen.
Werke von Paul Ehrenreich
- Über d. Botocudos d. brasilian. Prov. Espiritu Santo u. Minas Gerães, in: Zs. f. Ethnologie 19, 1887, S. 1-46, 49-82; Materialien z. Sprachkde. Brasiliens, ebd. 26, 1894, 27, 1895, 29, 1897;
- Die Mythen u. Legenden d. südamerikan. Urvölker u. ihre Beziehungen zu denen Nordamerikas u. d. Alten Welt, = ebd. 37, Supplement, 1905;
- Götter u. Heilbringer, ebd. 38, 1906, S. 536-610;
- Btrr. z. Völkerkde. Brasiliens, = Veröff. aus d. Kgl. Mus. f. Völkerkde. Berlin 2, 1891, H. 1 u. 2 (portug. Übers. 1948);
- Die Einteilung u. Verbreitung d. Volksstämme Brasiliens nach d. gegenwärtigen Stande unserer Kenntnisse, in: Petermanns Geogr. Mitt. 37, 1891 (portug. Übers. 1892);
- Btrr. z. Geogr. Central-Brasiliens, in: Zs. d. Ges. f. Erdkunde zu Berlin 26, 1891, 27, 1892;
- Anthropol. Stud. üb. d. Urbewohner Brasiliens, vornehmlich d. Staaten Matto Grosso, Goyaz u. Amazonas (Purus-Gebiet), 1897; Die Ethnographie Südamerikas im Beginn d. 20. Jh. unter bes. Berücksichtigung d. Naturvölker, in: Archiv f. Anthropol., NF, 3, 1904, S. 39-75 (portug. Übers. 1907). – Hrsg.: Baessler-Archiv, 1910-14.