Wer hat’s erfunden? Ein Spanier! Enrique Gaspar und die erste literarische Beschreibung einer Zeitmaschine

Eine Zeitmaschine, mit der man sich beliebig in die Zukunft oder auch in die Vergangenheit transportieren lassen kann, wer denkt hierbei nicht gleich an den 1866 in England geborenen Autor H.G. Wells und seinen 1895 erschienenen Roman „Die Zeitmaschine“. Wells, ebenfalls Autor des Science-Fiction-Klassikers „Krieg der Welten“, gilt allgemeinhin als derjenige, der die Zeitmaschine als Instrument zur Durchführung von Zeitreisen breit popularisierte. Er war jedoch weder der einzige noch der erste Autor, der im 19. Jahrhundert von einer derartigen Maschine träumte. Bereits 1887, also acht Jahre vor Wells „Time Machine“ und ein Jahr vor dessen Kurzgeschichte „The Chronic Argonauts“, veröffentlichte der spanische Diplomat und Schriftsteller Enrique Gaspar y Rimbau den Roman „El „Anacronópete“ “, in dem er die Geschichte eines spanischen Naturwissenschaftlers erzählt, der sich mit einer schiffsähnlichen Zeitmaschine auf eine Reise durch die Zeit begibt.  Wurde diese Zeitreise in den letzten Jahren noch einmal neu aufgelegt, so gibt es weltweit nur noch wenige Originalausgaben des „„Anacronópete“ “. Die einzige in Deutschland Verfügbare befindet sich in der Bibliothek des IAI. Wir haben diese aus dem Magazin gezaubert und haben uns mitnehmen lassen auf eine Reise durch die Zeit.

Der Roman beginnt auf der Pariser Weltausstellung 1878, ein geradezu prädestinierter Ort für die Vorstellung technologischer und industrieller Innovationen. Dort enthüllt der Protagonist des Romans, der aus Zaragoza stammende Natur- und Physikwissenschaftler Don Sindulfo García, seine neue Erfindung: eine Zeitmaschine, die einem gigantischen, gusseisernen Schiff ähnelt und vom Protagonisten selbst als „eine Art Arche Noah“ (S.27) beschrieben wird. Fortbewegt wird dieses Gefährt durch vier große, elektrisch betriebene Schaufeln, die den „Anacronópete“ in einem hohen Tempo entgegengesetzt zur Erdrotation bewegen und so das Gefährt durch die Zeit lenken. Seinen Namen verdankt dieses „Zeitschiff“ – so lässt Gaspar seinen Protagonisten erzählen –den drei griechischen Wörtern: „ana“ (rückwärtsgewandt), „chrono“, (Zeit oder Zeitdauer), sowie „petes“, was der Protagonist mit „jemand, der fliegt“ übersetzt (S.27).

Anders als H.G. Wells, der seine Zeitmaschine als Ein-Mann-Gefährt mit einem propellerähnlichen Antrieb und die Zeitreise selbst als dunkel und gefährlich beschrieb, bewegt sich der elektrisch angetriebene „„Anacronópete“ derart sacht durch die Zeit, dass seine Passagiere kaum bemerken, dass sie unterwegs sind. Zugleich bietet der „Anacronópete“ sämtliche Bequemlichkeiten des modernen Reisens und verfügt über genügend Platz für Proviant, weitere technische Geräte und eine große, bunt gemischte Besatzung. Neben Don Sindulfo und seinem Gehilfen Benjamín treten auch Clarita, die Nichte Don Sindulfos, und der Husarenkapitän Luis die Jungfernfahrt des „Anacronópete“ an. Auf Bitte des Pariser Bürgermeisters nimmt Don Sindulfo auch einige ältere Französinnen „mit zweifelhafter Moral“ mit an Bord, die durch die Zeitreise verjüngt und so zu „ehrhaften“ Frauen gemacht werden sollen. Die anderen Passagiere werden hingegen mithilfe eines ebenfalls von Don Sindulfo entwickelten Geräts „zeitfixiert“. 

Ziel der Expedition ist es, die inhaftierte Frau eines chinesischen Kaisers aus dem dritten Jahrhundert aufzuspüren, von der man glaubt, dass sie das Geheimnis der Unsterblichkeit besitzt. Die Reise geht dabei nicht, wie bei Wells, in die Zukunft, sondern in die Vergangenheit. Das wundersame Gefährt bringt seine Passagiere ins Jahr 1860, zur Schlacht von Tétouan, nach Granada (1492), nach China und Pompei im Jahr 79 und zu vorchristlichen, biblischen Ereignissen. Etwas, das die Zeitreisenden bei ihren Abenteuern immer wieder beschäftigt, ist das Paradoxon der Zeitreise: Was passiert in der Zukunft, wenn die Vergangenheit geändert wird? Kann die Vergangenheit in dem Maße verändert werden, dass die Zeitreisenden selbst gar nicht erst geboren werden? Auch in Bezug auf dieses literarische Motiv war Gaspar laut Ismael F. Cabeza Pionier, er nahm vorweg, was erst ein halbes Jahrhundert später vom französischen Autor René Barjavel in seinem 1944 erschienenen Science-Fiction-Roman „Le Voyageur imprudent“ aufgenommen wurde. Doch nicht nur die literarische Beschreibung einer Zeitmaschine und die Auseinandersetzung mit dem Zeitreise-Paradoxon machen den Roman Gaspars besonders: Die Originalausgabe enthält zudem die ersten bildlichen Darstellungen einer Zeitmaschine. Die vom katalanischen Zeichner und Maler Francesc oder Francisco Gómez Soler angefertigten Schwarz-Weiß-Illustrationen begleiten die Abenteuergeschichte und die Beschreibungen der Zeitmaschine auf beeindruckende Weise.

War Gaspar in einigen Punkten seiner Zeit (ein wenig) voraus, so entspannte er in seiner Zeitreise zugleich eine klassische Erzählung über Besessenheit, große Abenteuer und (unerfüllte) Liebe. Den ersten Entwurf schrieb der 1842 in Madrid geborene Gaspar bereits 1881 während seiner diplomatischen Reise nach China. Ursprünglich verfolgte Gaspar das Ziel, die Geschichte seiner Zeitmaschine in das in Spanien populäre und gut besuchte Musiktheater zu bringen. Die erste Fassung schrieb er so auch im Zarzuela-Format. Doch seine Versuche, das Stück auf die Bühne zu bringen, blieben erfolglos. Also schrieb Gaspar Teile des Werkes um und veröffentlichte die Erzählung stattdessen als Roman.



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Der Band wirft gleich mehrere Fragen auf: Kannten sich Wells und Gaspar? Hatte Wells den auf Spanisch veröffentlichten Roman „Anacronópete“ gelesen und Teile der Erzählung für seine Werke übernommen? Und wieso gilt Wells heute als literarischer Erfinder der Zeitmaschine, während Gaspars „Anacronópete“ heute nur Wenigen bekannt ist? Dass Wells Gaspar oder dessen Zeitreise kannte oder diese gelesen hatte, halten zumindest die Übersetzerinnen Yolanda Molina-Gavilán und Andrea Bell für unwahrscheinlich. Es gibt zwar einige erstaunlich ähnliche Motive in diesen beiden Werken –  beide Protogonisten sind Wissenschaftler, die Präsentation der Erfindung vor einem kritischen Gremium oder eben die Erfindung einer Maschine, die die Zeitreise erst möglich macht – diese können aber auch auf den historischen Kontext zurückgeführt werden. Als Kinder der Industrialisierung erlebten Wells und Gaspar, wie immer mehr und verschiedenartige Maschinen und schnellere Transportmittel ihren Alltag bestimmten. Auch der Aufstieg der (Natur-)Wissenschaften und die Ausdifferenzierung der Disziplinen prägte die Lebenswelten beider Schriftsteller. Die genannten Parallelen verweisen somit eher auf den in der Gesellschaft erstarkenden Technik und –Wissenschaftsglauben als auf einen direkten Einfluss Gaspars im literarischen Werk des englischen Autors. Während Wells und Gaspar wohl nie die Werke des Anderen rezipierten, so fanden sie doch beide Inspiration in Jules Vernes, dessen Erzählungen im Europa des 19. Jahrhundert breit verbreitet waren.   

Die Frage nach der Rezeption lässt sich nicht abschließend klären: Ismael F. Cabeza vermutet in seinem Beitrag, dass (zeitgenössische) Kritiker*innen eher Gaspars andere Werke, darunter komische Theaterstücke, Zarzuelas und Romane, rezipierten. Diese kreisten größtenteils um sozialethische Fragen – und auch hier war Gaspar, der an eine gleichberechtigte Welt für Männer und Frauen glaubte, oftmals seiner Zeit voraus: Im Band „La lengua“ (1882) beschäftigte sich Gaspar beispielsweise mit Verleumdung und Frauenerziehung in der zeitgenössischen spanischen Gesellschaft. Im 1893 veröffentlichten Werk „Huelga de Hijos“ vertrat er eine klar feministische Haltung, was ihn von vielen (männlichen) Zeitgenossen unterschied. Eben diese gesellschaftskritische Position Gaspars führt Cabeza als weiteren Grund dafür an, dass Gaspar von seinen Zeitgenossen nicht ausreichend anerkannt und erinnert wurde.

(1902-02-22). „Enrique Gaspar„. Blanco y Negro (593). ISSN 0006-4572.

Dass der „Anacronópete“ in Vergessenheit geriet, hängt auch damit zusammen, dass das Werk lange nur auf Spanisch zur Verfügung stand. Wells „Time Machine“ wurde dagegen bereits im frühen 20. Jahrhundert in andere Sprachen übersetzt, – im Deutschen erschien die erste Übersetzung 1904, im Spanischen vermutlich in den 1920er Jahren. Gaspars „Anacronópete“ wurde erst kürzlich, in den letzten Jahrzehnten, wiederentdeckt. 2000 veröffentlichte der spanische Buchclub Círculo de Lectores eine neue Auflage des Werkes. 2012 wurde der „Anacronópete“ dann erstmalig von den beiden Hispanistinnen und Science-Fiction-Fans Yolanda Molina-Gavilán y Andrea Bell ins Englische übersetzt. Beide betonten in ihrem kritischen Vorwort zum „Time Ship“ die Bedeutung Gaspars für die Geschichte der Science-Fiction-Literatur. Mittlerweile kann jede*r die Geschichte auch digital auf Englisch oder Spanisch lesen. Die Biblioteca Digital Hispánica hat mittlerweile auch die Originalfassung digitalisiert und kostenfrei zur Verfügung gestellt. Was schlussendlich noch fehlt, ist eine Verfilmung dieser außergewöhnlichen Geschichte.

Wie wir auf Gaspar kamen? Seit einigen Jahren erwirbt die Bibliothek gezielt auch Comic- und Science-Fiction-Literatur. Zuletzt erwarben wir das erste Heft des neuen, in Madrid veröffentlichten Science-Fiction-Magazins „Gato Negro. La Primera Revista de Leyendas y Oculturas de Madrid“, in dem sich auch Cabezas kleiner Beitrag zu Gaspar und „seiner“ Zeitmaschine fand. Dass wir, wie eine kurze Recherche in unserem Bibliothekskatalog zeigte, sogar die Originalausgabe von 1887 in unserem Bestand haben, machte uns dann doch ein wenig stolz.

Auch wenn die erste literarische Beschreibung einer Zeitmaschine am Ende vielleicht weder Wells noch auf Gaspar, sondern vermutlich dem US-amerikanischen Autor Edward Page Mitchell („Clock that Went Backward“, 1881) zuzuschreiben ist – allerdings ging es bei diesem „nur“ um eine Uhr –, ist Gaspars „Anacronópete“ die Lektüre wert. Denn was den „Anacronópete“ von Wells dystopischen, düsteren Werk unterscheidet, ist der für Gaspar charakteristische Humor, der diesem als Hilfsmittel diente, um die Probleme der zeitgenössischen Gesellschaft aufzudecken. So ist der „Anacronópete“ letztlich nicht nur eine Kritik am oben genannten Technik- und Wissenschaftsglauben, er ist zugleich, so Molina-Gavilán und Andrea Bell, unbeschwerter und unterhaltsamer als H.G. Wells „Time Machine“.

Als kleine Kostprobe für Gaspars Humor kann der letzte Satz des Romans dienen. So heißt es, nachdem Don Sindulfo aufwacht und feststellt, dass die gesamte Zeitreise schlussendlich doch nur ein Traum war:

„Und doch müssen wir anerkennen, dass meine Arbeit zumindest einen Verdienst hat: Dass ein Sohn Spaniens es gewagt hat, zu versuchen, die Zeit selbst zum Leben zu erwecken, während es im Gegenteil bekanntlich die fast ausschließliche Berufung der Spanier ist, die Zeit totzuschlagen.“ (S. 217/218)

Mehr Infos

Ismael F. Cabeza: „El „Anacronópete“ “, in: Gato Negro. La Primera Revista de Leyendas y Oculturas de Madrid, Núm. 2 (2020), S.18/19.

GASPAR, E., MOLINA-GAVILÁN, Y., & BELL, A. L. (2012). The Time Ship: A Chrononautical Journey. Wesleyan University Press.

https://en.wikipedia.org/wiki/Enrique_Gaspar#El_anacron%C3%B3pete

https://www.bbc.com/mundo/noticias/2011/04/110409_cultura_ciencia_ficcion_maquina_tiempo_gaspar_mt

https://elpais.com/diario/2011/04/17/domingo/1303012359_850215.html