Der Sertão von Oma Geralda: Kommunismus, Militärdiktatur und Oral History als Anstoß für die historische Forschung

Der Text auf Portugiesisch kann hier gelesen werden.

 

„Der Sertão ist in uns“
Riobaldo, Charakter von Guimarães Rosa

 

Seit Guimarães Rosa eine Gruppe von Kuhhirten in das Hinterland (portugiesisch Sertão) von Minas Gerais begleitete und daraus einen der bedeutendsten Romane der brasilianischen Literatur schrieb, war die Oralität untrennbar mit diesem Roman verbunden. Zunächst weil in Grande Sertão: Veredas die Mündlichkeit ein herausstechendes Strukturelement des Romans ist: In dem Text wird die Geschichte aus der Ich-Perspektive und im Dialog mit einem fiktiven Gesprächspartner – dem Autor selbst? – erzählt. Der Gesprächspartner selbst tritt jedoch nie in den Vordergrund und der Text nimmt die Form eines Monologs an. Dass Rosa die Sertanejo-Mundart des Erzählers auf eine sehr direkte und zugleich kreative Weise in den Text überträgt, ist ein weiteres Charakteristikum des Werkes.

Unter dem Einfluss von Rosa ist die Mündlichkeit auch ein zentrales Element des Buches A Porta Aberta do Sertão: Histórias da Vó Geralda (dt. „Die offene Tür zum Sertão: Geschichten von Oma Geralda“)[1], das von Geralda de Brito Oliveira (d.h. von „Oma“ Geralda selbst), Isla Nakano und Renata Ribeiro geschrieben und 2024 im Verlag Relicário veröffentlicht wurde (Oliveira et al., 2004). Mehr als eine formale Übereinstimmung entspringen Geraldas mündliche Berichte, die mit erklärter Liebe und Treue zur Sprache des Sertão transkribiert wurden, demselben Substrat, das auch den Roman vom Guimarães Rosa inspiriert hat. In der Region des Vale do Rio Urucuia, die Riobaldo und Diadorim auf ihrer Reise durch den Grande Sertão durchquert haben, lebt Geralda und sammelt Geschichten, die in der offiziellen Historiographie wenig bekannt sind. Mehr als 40 Stunden Gesprächsaufzeichnungen bilden die Grundlage des Buches.

Das Beste ist, ein Kind im Sertão zu sein. Das ist zu gut. Man rennt hierhin und dorthin, geht zum Fluss. Badet, springt und klettert auf ’nen Baumstamm, reitet auf ’nem Pferd, spielt mit Schafen, Ziegen. Verstecken, Wippe, Federball…” (Geralda in einem Abschnitt des Buches, Seite 56).

Im Zentrum des Buches stehen Geraldas Erinnerungen, die unmittelbar mit einer der turbulentesten Phasen des ohnehin unruhigen 20. Jahrhunderts in Brasilien verbunden sind. Geralda wurde 1968 als Lehrerin an einer Landschule eingestellt, die in dem Gebiet lag, das für die zukünftige Stadt Marina vorgesehen war. Diese Stadt war als Sitz eines geplanten Besiedlungsprojekts konzipiert, etwa 200 km vom heutigen Brasília entfernt. Oscar Niemeyer (1907-2012) entwarf den Stadtplan und war Teil eines Teams, dem auch der Landschaftsarchitekt Roberto Burle Marx (1909-1994) angehörte [2]. Die Parzellierung des ländlichen Projektgebiets, Colônia Menino genannt, hatte kommerziellen Charakter und sollte von einem Privatunternehmen durchgeführt werden, das mit dem deutschstämmigen Unternehmer Max Hermann in Verbindung stand. Die Firma, die auf den Namen seiner Frau, Marina Ramona Gomes, eingetragen war, hatte 1955 ein Gebiet von 90.000 Hektar (fast dreimal so groß wie die Stadt Belo Horizonte) gekauft, um es unter denjenigen aufzuteilen, die in das Projekt investieren wollten. Die Idee, die hinter dem Projekt stand, war die Erschaffung eines Grüngürtels in der Nähe der neuen Hauptstadt, um die Bevölkerung der Region mit Nahrungsmitteln zu versorgen und so die Migrationsströme zu bewältigen.

 


Werbung für das Projekt in der Zeitschrift Módulo, Nr. 18.

Max hat ein paar Männer hierhergebracht. Die blieben alle im Zimmer […] Ich weiß nichts über die zu erzählen, aber Max sagte so: – Geralda, das hier sind Marighella, Brizola, João weiß-nicht-was… Da waren ’ne Menge Männer im Flugzeug, so um die acht, alle sehr bekannt. Als sie gingen, haben sie sich von uns verabschiedet – lauter gute Leute…” (Geralda, Seite 105)

Nach dem Militärputsch von 1964, der den Präsidenten João Goulart aus dem Amt entfernte und eine 21-jährige Diktatur einleitete, geriet das bis dahin stark geförderte Besiedlungsprojek Siedlungsprojekt ins Stocken. „Der politische Umbruch in Brasilien in der ersten Hälfte der 1960er Jahre brachte Herausforderungen mit sich, um öffentliche und private Investitionen zu fördern. Es gab Kontroversen über die Beteiligung von Parlamentariern an der Firma, die für das Projekt verantwörtlich war, und Unsicherheiten über die Rentabilität der Investitionen angesichts fragwürdiger Versprechungen über die Fruchtbarkeit der Böden in der Region“ (Oliveira, o.A.).

So um 1969 rum hat der Hermann hier auf der Fazenda Menino jede Menge Papier und Bücher verbrannt. Ich weiß nich, warum er das gemacht hat. Nachdem ein regionaler Polizeidelegierter hierhergekommen is, haben die viele Bücher, viele Sachen ausgesucht zum Verbrennen. Da kam so’n Lastwagen, randvoll nur mit Büchern, Zeitschriften und Papier! Aus Rio de Janeiro!“ (Geralda, Seite 107)

Hermann wurde vom Geheimdienst der Diktatur als kommunistischer Aktivist identifiziert, und die Militärs vermuteten, dass Mitglieder der Opposition und des bewaffneten Widerstands gegen das Regime das Land des Projekts für ihre „subversiven“ Aktivitäten nutzten. Dieser Verdacht führte dazu, dass die Polizei das Grundstück Anfang der 1970er Jahre stürmte. Hermann und Geralda, die zu dieser Zeit Verwaltungsaufgaben auf der Fazenda Menino übernommen hatte, wurden verhaftet und gefoltert. Laut dem Bericht der Wahrheitskommission von Minas Gerais vermuteten die Ermittler des Regimes, dass der Staatsfeind Nr. 1 Carlos Marighella (1911-1969), der von Agenten der Diktatur ermordet wurde, das Gebiet der Fazenda Menino in einen revolutionären Aufstandsplan einbeziehen wollte. Marighella soll sogar unter dem Decknamen Dr. Duarte auf der Fazenda Menino übernachtet haben (Comissão da Verdade de Minas Gerais, 2017).

Eines Tages kam ein Major hierher – Major Rubens. War das erste Mal, dass er kam. Als ich rausging, um ihn zu empfangen, hab ich gleich gesehen, dass er Polizist war, am Gang vom Mann – die treten anders als der Zivilist.” (Geralda, Seite 107)

In den 1980er Jahren geriet die Farm erneut in den Fokus der Presse aufgrund von Konflikten zwischen Landbesitzern und illegalen Landräubern, was Hermann selbst dazu veranlasst haben soll, beim INCRA (Nationales Institut für Besiedlung und Agrarreform) die Enteignung des Gebiets im Rahmen des nationalen Agrarreformprogramms zu beantragen (Jornal do Brasil, 1986).

 

Oral History als Ergänzung und Ausgangspunkt

Oral History-Materialien spielen spielen eine wichtige Rolle bei der Bewahrung der Erinnerungen und Perspektiven vonEinzelpersonen und Gemeinschaften, die historische Ereignisse erlebt haben. Durch die Erfassung von Erzählungen direkt von lebenden Quellen bieten sie eine einzigartige Perspektive, die in offiziellen Dokumenten und schriftlichen Quellen oft fehlt. Oral History-Dokumente bereichern das Verständnis von Ereignissen, indem sie dem Studium der Geschichte Menschlichkeit und Tiefe verleihen.

Neben der Bewahrung von Erinnerungen kann Oral History auch wenig bekannte oder von der traditionellen Geschichtsschreibung vernachlässigte Aspekte beleuchten. Offizielle Dokumente spiegeln nicht selten nur die Perspektive der Herrschenden, privilegierter Gruppen oder anerkannter Institutionen wider und hinterlassen so wichtige Lücken in der Geschichtserzählung. Interviews und mündliche Überlieferungen können Erfahrungen und marginalisierte Themen aufdecken, wie z.B. Geschichten über populären Widerstand oder lokale Dynamiken in Zeiten großer Umbrüche. Dies bietet die Möglichkeit, das Verständnis sozialer, kultureller und politischer Themen zu erweitern und neue Analyseebenen zu schaffen, die traditionelle Interpretationen bereichern oder sogar herausfordern können.

Oral History Erzählungen können daher auch als Ausgangspunkt für neue Forschungsprojekte dienen. Ausgehend von Erzählungen wie der von Geralda können Forscherinnen und Forscher neue Ansätze finden, unerschlossene Themen entdecken und sich mit wenig dokumentierten Fragen auseinandersetzen. Derartige Materialien können die Suche nach weiteren Quellen wie lokalen Archiven, Zeitungen und privaten Dokumenten anregen und so neue Entdeckungen ermöglichen.

 

[1] Die Übersetzung des Titels, sowie weiterer Passagen des Buches stammen vom Verfasser des Blogeintrags.

[2] Während Oscar Niemeyer den urbänen Teil des Projekts entwarf, war der Ingenieur Paulo Peltier de Queiroz für den landwirtschaftlichen Teil verantwortlich.

[3] Die Hemeroteca Digital der Nationalbibliothek Brasiliens hat ein thematisches Dossier über die Stadt Marina veröffentlicht. Das Dossier zeigt Berichte und Nachrichten, die mit der Stadt Marina verbunden sind, sowie Werbematerialien für die Grundstücke des Besiedlungsprojekts, die in damals weit verbreiteten Printmedien veröffentlicht wurden (vgl. Oliveira, o. A.).

 

Referenzen

Comissão da Verdade de Minas Gerais – Relatório Final, 2017. Belo Horizonte: COVEMG.

Oliveira, Geralda; Nakano, Isla; Ribeiro, Renata, 2004. A porta abrta do Sertão: História da Vó Geralda. Belo Horizonte: Relicário.

Jornal do Brasil, 1986. Alemão quer doar fazenda só de areia para reforma. XCVI, n. 134, 28/08/1986, p. 13.

Oliveira, Gabriel, o.A. Dossiê Cidade Marina. Hemeroteca digital da Fundação Biblioteca Nacional. Verfügbar unter https://bndigital.bn.gov.br/dossies/cidade-marina/ (am 20.09.2024 aufgerufen)

 

Weitere Materialien zum Thema

Marina Mesquita Camisasca. “O latifúndio é o diabo: resistências camponesas em Minas Gerais  (1964-1988)” (Doktorarbeit). Universidade Federal de Minas Gerais, 2022.

Tortura e repressão: como a ditadura destruiu o projeto da cidade Marina. Reportage zu den Ermittlungen der Militärdiktatur in der Region, jornal Estado de Minas.

Distante 200 km da nova capital, Marina serviria de abastecimento para Brasília. Reportage zur Geschichte der Stadt Marina, jornal Estado de Minas.

Architekturzetschrift Módulo: revista de arquitectura e artes plásticas. Der Heft Nr. legt den Fokus auf dem Projekt von Brasília und der Stadt Marina. Link zum Katalog der Bibliothek des IAI.