Die beiden Erdteile liegen wahrscheinlich zwar nicht ganz auf entgegengesetzten Seiten des Globus, aber doch schon ziemlich weit voneinander entfernt. Nicht nur geographisch, sondern auch geschichtlich und kulturell gibt es auf den ersten Blick wenig, was beide Regionen verbindet. Bei genauerem Hinsehen gibt es jedoch durchaus mehrere historische Berührungspunkte, die bis in die Gegenwart nachwirken. In diesem Beitrag möchten wir uns eben dieser häufig unterschätzten Beziehung widmen.
Portugiesen in Japan
Nachdem 1543 erstmals portugiesische Seeleute – als erste Europäer:innen überhaupt – den Archipel erreicht hatten, begann eine kurze aber intensive Phase des kommerziellen, aber auch kulturellen Austauschs. Davon zeugen heute noch immer Begriffe, die aus dem Portugiesischen in die japanische Alltagssprache übernommen wurden, wie z.B. パン pan (Brot, von „pão“), ボタン botan (Knopf, von „botão“) und カステラ kasutera (eine Art Kuchen aus Biskuitteig, von „(Pão de) Castela“). Die Portugiesen handelten vor allem mit in Japan heiß begehrten Luxuswaren aus China (z.B. Seide und Porzellan) und erhielten sogar einen „eigenen“ Hafen, im heutigen Nagasaki (長崎). Sie führten aber auch Schusswaffen und den katholischen Glauben ein. Lokale Fürsten (Daimyō, 大名) erkannten schnell das Potenzial beider „Importe“ für ihre eigenen Machtambitionen und konnten sich schon bald gegen verfeindete Clans durchsetzen.
Besorgt durch die wachsende Bedeutung der neuen Religion und den politischen Einfluss seiner Repräsentanten, befahl Reichseiniger Toyotomi Hideyoshi (豊臣 秀吉) 1587 die Vertreibung aller christlichen Missionare, die jedoch erst sein Nachfolger und erster Shōgun (将軍) Tokugawa Ieyasu (徳川 家康) in 1614 endgültig durchsetzen sollte. Es schloss sich eine lange Periode der Christen:innenverfolgung in Japan an. In der Folge schottete sich das Inselreich bis 1853 von der Außenwelt ab (鎖国 Sakoku oder das „verschlossene Land“) und einzig niederländische Händler:innen hatten das Recht für den Warenaustausch in Japan oder, genauer gesagt, auf der künstlichen Insel Dejima (出島) vor Nagasaki zu landen.
Japanische Auswanderung nach Lateinamerika
Nach den Jahrhunderten der Isolation richtete sich das Kaiserreich im Zuge weitreichender Modernisierungsbestrebungen Mitte des 19. Jahrunderts umso heftiger nach außen und sandte seine Untertanen ins Ausland, um Kompetenzen und Expertise zu sammeln. Elitesprösse gingen an renommierte Universitäten in Europa und den USA, einfache Bauern und Handwerker nach Hawaii oder die Pazifikküste Nordamerikas in der Hoffnung dort schnell reich zu werden.
Nachdem aber die USA rassistisch motivierte Einwanderungsbeschränkungen erließ („Gentleman’s Agreement“ von 1908, Immigration Act von 1924), begann, in zunächst deutlich bescheidenerem Ausmaße, die Emigration nach Mittel- und Südamerika. Die ersten Vetragsarbeiter gingen nach Peru und Mexiko, Argentinien hat ebenfalls einige Immigranten aus Fernost (bzw. aus ihrer Perspektive, „Fernwest“) aufgenommen. Mit Abstand die Meisten gingen jedoch nach Brasilien, dort vor allem in die südlichen Bundesstaaten (allen voran, nach São Paulo). Japan wollte mittels der Auswanderungspolitik vor allem Überbevölkerung und Armut auf dem Lande bekämpfen[1]. Brasilien suchte, nach Abschaffung der Sklaverei 1888 und dem Rückgang der Immigration aus Europa, händeringend nach Arbeitskräften für die Kaffeeproduktion, damals wichtigster Wirtschaftszweig des Landes.
Ziel | 1868-1900 | 1901-1920 | 1921-1930 | 1931-1941 | Gesamt |
Argentinien | – | 811 | 2.100 | 2.487 | 5.398 |
Bolivien | – | 17 | 64 | 168 | 249 |
Brasilien | – | 28.661 | 70.913 | 89.411 | 188.985 |
Paraguay | – | – | 1 | 708 | 709 |
Peru | 790 | 19.378 | 9.172 | 3.730 | 33.070 |
Mexiko | 121 | 11.428 | 2.141 | 977 | 14.667 |
Andere | – | 436 | 951 | 481 | 1868 |
(nach Endoh 2009: 18)
Viele dieser Auswander:innen verfolgten das Ziel langfristig in ihre Heimat zurückzukehren, sobald sie genug Geld verdient hatten, was auch ein Grund für den höheren Männeranteil in diesen Gruppen war. Die Realität erwies sich jedoch in den meisten Fällen als bittere Enttäuschung, aufgrund der schlechten Bezahlung und den ebenso schlechten, teilweise noch stark „kolonial geprägten“ Arbeitsverhältnissen. So ließen sich die meisten Familien eher gezwungenermaßen in den Aufnahmeländern nieder, vor allem in den Städten, wo sie sich häufig selbstständig machten, was zur Bildung regelrechter „Japantowns“ führte. Dort konnten sich dann die Nihon-jin (日本人)[2] und Nikkei-jin (日系人)[3] weitgehend innerhalb ihrer Community bewegen und soziale, wirtschaftliche und, nicht zuletz, amouröse Netzwerke (also als eine Art „Partnerbörsen“) aufbauen. Die fremden Sprachen der Aufnahmeländer, die sehr anderen Formen der zwischenmenschliche Interaktion, das Klima, sogar die Essgewohnheiten setzten besonders Neuankömmlingen zu und verstärkten Heimweh und das Gefühl „fehl am Platz“ zu sein.
行こうかサンパウロ 帰ろうかジャポン
Sollen wir nach São Paulo? Oder zurück nach „Japão“?
ここが思案のパラー州
Diese Gedanken plagen mich hier in Pará
聞いて極楽 来てみりゃ地獄
Man hört es sei das Paradies, wenn man einmal da ist, die Hölle
落ちる涙はアカラ川
Meine Tränen fließen wie der Acará
Unbekannte:r Autor:in (Endoh 2009: 35, Übersetzung vom Autor des Beitrags).
Zum bereits etablierten Rassismus und Gefühlen der „Überlegenheit“ der (weißen) Alteingesessenen, die auch oder gerade in den multiethnischen und -kulturellen Gesellschaften Lateinamerikas kultiviert wurden, kam mit Ausbruch des 2. Weltkrieges noch eine Kriegsrhetorik hinzu, die vielerorts zu einer Verschärfung der Diskriminierung führte. Diese äußerte sich nach Region unterschiedlich und traf häufig auch die deutsche und italienische Diaspora[4]. Auf der anderen Seite erreichte die nationalistisch-faschistische Indoktrinierung der Achsenmächte auch die Communitys in Übersee und erschwerte zusätzlich das friedliche Miteinander. Tatsächlich wurde die Kapitulation Japans 1945 von einigen Immigranten:innen geleugnet und als aliierte Propaganda abgetan, zog sogar teilweise terroristische Anschläge nach sich (z.B. von der Gruppe Shindō Renmei, 臣道連盟, in São Paulo, nachzulesen in Corações Sujos von Fernando Morais).
(Bilder aus Machado / D’Ambrosio 2008.)
Heute wird die Nikkei-Bevölkerung vonseiten der Mehrheitsgesellschaft weitgehend positiv bewertet, sozusagen als „model minority“, was sicherlich an den mit ihr assoziierten Werten wie Disziplin, gute Arbeitsmoral und Ordnungsliebe liegt. Brasilien ist, nach wie vor, das Zuhause der größten japanischstämmigen Bevölkerung außerhalb Japans: 1.228.000 Nikkei-jin lebten Anfang des 21. Jahrhunderts dort, 887.000 im Bundestaat und 326.000 in der Stadt São Paulo (Tsuda 2003). Die allermeisten von ihnen sind heutzutage gut „integriert“, was sich z.B. an der Anzahl der „Mischehen“ ablesen lässt (45,9%). Sie leben größtenteils in Städten, gehören der Mittelschicht an und verfügen über ein vergleichsweise hohes Bildungsniveau. Trotzdem wiegt für viele weiterhin der japanische Identitätsanteil schwerer als der brasilianische. Das liegt sicherlich an sehr vielen Faktoren, wie den deutlichen Kulturunterschieden, dem auch innerhalb der Communitys tradierten Bewusstsein soziokultureller Einzigartigkeit (in der Forschung häufig als Japaneseness bezeichnet), sowie auch an der Erfahrung stets als „japonês“ wahrgenommen und teilweise sogar angesprochen zu werden (Tsuda 2003).
Kulturelle Strahlkraft Japans
Aber nicht nur für die Nachfahren der Auswanderer:innen stellt Japan einen Sehnsuchtsort dar. Der „hermetische“ Archipel fasziniert den Westen schon seit Marco Polo den Mythos der Insel Cipangu in Europa popularisiert hat. Frühe Vertreter:innen der Moderne ließen sich von der „exotischen“ Kunst inspirieren, Heranwachsende sind spätestens seit den 1980er Jahren mit den pop-kulturellen Produkten Japans (Manga, Anime, Videospiele) bestens vertraut. Neben den schon oft bemühten Motiven, die auch in der Selbstdarstellung Japans beinahe gebetsmühlenartig rezitiert werden (Kirschblüten, Fuji, Teezeremonien, Geisha, Samurai, etc.), ist seit Ende des 20. Jahrhunderts noch das Bild der Hightech-Nation hinzugekommen. Auch wenn direkte politische und Handelsbeziehungen zwischen beiden Regionen nicht sehr zahlreich sind, so prägen die ökonomischen Errungenschaften und der Wohlstand Japans gerade in einer Weltregion, in der weite Teile der Bevölkerung noch immer in mehr als prekären Verhältnissen lebt, das weitgehend positive Bild, das Lateinamerikaner:innen im Allgemeinen von Japan haben.
Hightech spielt auch in der Außendarstellung Japans eine große Rolle und ist wesentlicher Teil der Fremdwahrnemung, wie auch an diesem Trailer für Olympia 2020 des BBC zu erkennen ist.
„Rückwanderung“ und Dekasegi
Nach dem Krieg folgte das „Wirtschaftswunder“, in Japan genauso wie in Deutschland. Gewissermaßen in einer Umkehrung der Verhältnisse zu Beginn des Jahrhunderts, veranlasste die Aussicht auf ökonomischen Erfolg viele japanischstämmige Lateinamerikaner:innen dazu im Land ihrer Ahnen ihr Glück zu versuchen. In der Presse und in der einschlägigen Forschung sind sie als Dekasegi (出稼, auch dekasegui oder dekassêgui/decassêgui) bekannt, Begriff der im Japanischen das Arbeiten getrennt von der Familie bezeichnet. Das stark ethnisch definierte Verständnis von „Japaneseness“ kommt ihnen zwar – in Abgrenzung zu anderen Einwanderungsgruppen – zugute, begrenzte Sprachkenntnisse und ihre nicht-japanische Sozialisierung verhindern aber in den meisten Fällen dennoch eine erfolgreiche Integration. So übernehmen sehr viele von ihnen – trotz guter Ausbildung – unqualifizierte Arbeit z.B. in Fabriken, verdienen zwar mehr als in ihrer Heimat, aber leben unter teilweise sehr viel schlechteren Bedingungen. Das führt wiederum zu sozialer Isolation oder sogar zu mehr oder weniger offener Diskriminierung. Daher träumen die meisten – in ganz ähnlicher Weise wie ihre Vorfahren – „nach Hause“ zurückzukehren, sobald sie auch nur genug Geld verdient haben.
[1] Traditionell haben nur erstgeborene Söhne der kinderreichen Familien Land geerbt und Ackerland ist in dem bergigen Inselstaat ohenhin ein rares Gut.
[2] Japaner:in.
[3] Person japanischer Abstammung.
[4] In Brasilien wurden nach Kriegseintritt 1942 der Schulunterricht und sämtliche Publikationen in den Sprachen der Achsenmächte verboten.
Literaturempfehlungen
Almazán Tomás, David / Barlés Báguena, Elena (coords.). Japón, España e Hispanoamérica: identidades y relaciones culturales. Zaragoza, España : Prensas de la Universidad de Zaragoza, 2019.
Endoh, Toake. Exporting Japan: Politics of Emigration Towards Latin America. Urbana, IL [u.a.] : University of Illinois Press, 2009.
Hirabayashi, Lane Ryo / Kikumura-Yano, Akemi / Hirabayashi, James A. (eds.). New Worlds, New Lives: Globalization and People of Japanese Descent in the Americas and from Latin America in Japan. Stanford, Calif. : Stanford Univ. Press, 2002.
Kishimoto, Tizuko Morchida / Demartini, Zeila de Brito Fabri (orgs.). Educação e cultura: Brasil e Japão. São Paulo: EDUSP, 2012.
Machado, João G. / D’Ambrosio, Oscar. A imigração japonesa no Brasil: Uma saga de 100 anos. Burajiru ni okeru Nihonjin imin: 100-nen no haran ni toyonda kiseki. São Paulo, SP : Editora Noovha America, 2008.
Molina Medina, Norbert. La inmigración japonesa en Venezuela: 1928-2008. Cuadernos del Japón. Mérida, Estado Mérida, Venezuela : Universidad de Los Andes, Centro de Estudios de África, Asia y Diásporas Latinoamericanas y Caribeñas „José Manuel Briceño Monzillo,“ Dirección General de Cultura y Extensión DIGECEX, [2012].
Prado, Tizuka. Colhendo ouro com as mãos: Um olhar nipo-brasileiro sobre a imigração japonesa no Brasil. Brasília : Thesaurus, 2009.
Tsuda, Takeyuki. Strangers in the Ethnic Homeland: Japanese Brazilian Return Migration in Transnational Perspective. New York, NY [u.a.] : Columbia University Press, 2003.
Das brasilianische Nationalarchiv zeigt in diesem Beitrag ein wenig aus seinem Bestand zur japanischen Einwanderung.