Raumfahrten zu fernen Planeten und in fremde Galaxien, außerirdisches Leben und fremde Zivilisationen, künstliche Intelligenz, Roboter, Cyborgs und Mutanten, Endzeitszenarien, Zeitreisen und alternative Welten – all das sind Themen, die man unmittelbar dem Genre Science Fiction zuordnet. In den nächsten Wochen möchten wir mit einigen Blogartikeln tiefer in diese fremden Welten einsteigen und Ihnen das Thema Science Fiction in Lateinamerika näher bringen, nachdem wir vor einigen Monaten bereits eine Blogreihe zum Thema Comic hatten.
Was Texte der Science Fiction eint, ist die Beschäftigung mit den Auswirkungen wissenschaftlicher und technischer Neuerungen auf die Gesellschaft, oft in Form von Zukunftsszenarien. Dabei ist mindestens ein sog. Novum vorhanden, ein Element, das in unserer Gegenwart so (noch) nicht möglich ist. Überschneidungen mit anderen Genres ergeben sich häufig, so vor allem mit Fantasy, Dystopie und Utopie sowie mit der fantastischen Literatur.
Möchte man die Gattung bis zu ihren Ursprüngen zurückverfolgen, muss man zunächst nach Europa und in die USA blicken. Der Gattungsbegriff „Science-Fiction“ existiert seit 1929 und stammt aus den USA. Texte, die eindeutig der Science Fiction zuzuordnen sind, gab es in Europa jedoch auch schon früher. So handelt es sich z.B. bei Frankenstein (Mary Shelley, 1818) und Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde (Robert Louis Stevenson, 1886) schon eindeutig um Science Fiction-Romane, ebenso bei den Abenteuern von Jules Verne (1864-1973) und den Werken von H. G. Wells (ab 1894). Sie alle schrieben erstmals vor dem Hintergrund der Industriellen Revolution und eines immer rasanteren technischen Fortschritts, der einerseits Technikeuphorie, andererseits aber auch Technikangst auslöste und damit ein zentraler Wegbereiter für die Zukunftsszenarien der Science-Fiction-Literatur war.
Vom sogenannten „Goldenen Zeitalter“ der Science Fiction spricht man dann etwa ab 1937 bis 1945. Ab dem Jahr 1937 nämlich erschienen in der US-amerikanischen Science Fiction-Zeitschrift Astounding die Erzählungen später äußerst erfolgreicher Autoren wie Isaac Asimov, Arthur C. Clarke und Robert Heinlein. Die Beiträge in der Zeitschrift waren betont wissenschaftlich und verschafften der Science Fiction-Literatur so ein deutlich seriöseres Image als zuvor. Heute wird der dort geprägte Typus der Science Fiction, der sich durch eine besondere wissenschaftliche Genauigkeit und Detailreichtum auszeichnet, als „harte Science Fiction“ bezeichnet. Im Mittelpunkt von „harten“ Science-Fiction-Geschichten stehen die Naturwissenschaften sowie die technischen Fortschritte selbst. Nach dem 2. Weltkrieg erfreute sich das Genre – auch durch seine Ausweitung auf das Medium Film – stetig wachsender Popularität und reagierte in den behandelten Themen unmittelbar auf die aktuellsten technologischen Errungenschaften. Besonders der Beginn der Raumfahrt und das anschließende Weltraumfieber versetzten dem Genre einen Schub und wurden über Jahrzehnte vorherrschendes Thema. Im Gegensatz zum Goldenen Zeitalter etabliert sich nun der Typus der sog. „weichen Science Fiction“: Dieser nutzt den Weltraum oder eine zukünftige Welt nicht mehr, um über Fragen menschlicher Entwicklungen zu spekulieren, sondern als exotische Kulisse, vor der traditionelle Genres wie Abenteuer oder Romanze ablaufen. Technische Errungenschaften werden vorrangig als Hilfsmittel genutzt, um die Handlung einzubetten. Vertreter dieses Subgenres sind neben den Romanen von Ray Bradbury, Ursula K. Le Guin oder Philip K. Dick auch die bis heute erfolgreichen Dune (ab 1965), Star Trek (ab 1966), Doctor Who (ab 1963) und Star Wars (ab 1977).
Was die lateinamerikanische Science-Fiction-Literatur angeht, werden die Ursprünge unterschiedlich gesehen. Vielfach werden sie auf die angloamerikanischen Vorbilder zurückgeführt, zuweilen aber auch in der fantastischen Literatur gesucht. Größere Verbreitung erlangte die Science Fiction-Literatur in Lateinamerika mit dem Erscheinen der argentinischen Zeitschrift Más allá ab 1953, die sowohl Übersetzungen wichtiger internationaler Science-Fiction-Autoren (z.B. Issac Asimov, Ray Bradbury, Philip K. Dick) als auch lokale Beiträge enthielt. Sie wurde von Héctor Germán Oesterheld geleitet, über den in diesem Blog bereits an anderer Stelle berichtet wurde. In der Bibliothek des IAI finden Sie mehrere Ausgaben von Más allá, unter anderem auch das erste Heft von 1953.
Sukzessive etablierte sich das Genre auch in anderen lateinamerikanischen Ländern. Einen kleinen Überblick über die jeweils ersten wichtigen Science-Fiction-Werke in den verschiedenen Ländern soll die folgende Liste bieten:
- El Eternauta, Héctor Germán Oesterheld (Argentinien 1957-1959)
- Los altísimos, Hugo Correa (Chile 1959)
- Dos novelas fantásticas, Mauricio Odremán (Venezuela 1962)
- Diário da Nave Perdida, André Carneiro (Brasilien 1963)
- La ciudad muerta de Korad, Óscar Hurtado (Kuba 1964)
- La noche de la trapa, Germán Espinosa (Kolumbien 1965)
- Cuentos de magia de misterio y de horror, Alfredo Cardona Peña (Mexiko 1966)
- El retorno de Aladino, José B. Adolph (Peru 1968)
- Gelatina, Mario Levrero (Uruguay 1968)
- Simón el mago, Carlos Béjar Portilla (Ecuador 1970)
- Hacer el amor en el refugio atómico, Álvaro Menen Desleal (El Salvador 1972)
- Espejos paralelos, Hugo Lindo (Costa Rica 1974)
- Zedar de los espacios, Ramiro Condarco Morales (Bolivien 1975)
- El mesías que no fue y otros cuentos, Osvaldo González Real (Paraguay 1980)
Die Erscheinungsjahre dieser jeweils ersten wichtigen Werke zeigen, dass Lateinamerika sein Goldenes Science-Fiction-Zeitalter – möchte man ein solches ansetzen – etwa ab den 1960er Jahren hat.
Auffällig ist, dass die zentralen Themen der spanisch- und portugiesischsprachigen Science Fiction-Erzählungen gesellschaftlicher, politischer, philosophischer oder psychologischer Natur sind. Damit ist die lateinamerikanische Science Fiction typologisch der „weichen Science Fiction“ zuzuordnen. Pablo Capanna, einer der frühesten und wichtigsten Kritiker der lateinamerikanischen Science Fiction, schreibt 1966: „Más allá de toda la parafernalia futurística y galáctica, la ciencia ficción latinoamericana trata siempre acerca del presente.” Eine Entsprechung zu den frühen US-amerikanischen Texten der „harten Science Fiction“ findet sich für Lateinamerika – zumindest für die Blütezeit – nicht. Im Gegenzug zeichnet sich die lateinamerikanische Science Fiction durch starke Überschneidungen mit der fantastischen Literatur aus – oft sind beide Genres kaum voneinander trennbar.
Nach dieser kleinen Einführung hoffen wir, dass Sie in den nächsten Wochen weiter mit uns auf die Reise gehen, wenn wir uns dann konkreter einzelnen Werken, AutorInnen und Motiven der lateinamerikanischen Science Fiction widmen werden.
Literaturempfehlungen:
Capanna, Pablo (1966): El sentido de la ciencia ficción. Buenos Aires: Editorial Columba.
Honores, Elton (2018): Fantasmas del futuro. Teoría e historia de la ciencia ficción (1821-1980).
Kurlat Ares, Silvia (Hg.) (2012): La ciencia ficción en América Latina. Entre la mitología experimental y lo que vendrá. Pittsburg, Pa.: Instituto Internacional de Literatura Iberoamericana.
Kurlat Ares, Silvia (Hg.) (2017): La ciencia ficción en América Latina: Aproximaciones teóricas al imaginario de la experimentación cultural. Pittsburg, Pa.: Instituto Internacional de Literatura Iberoamericana.
Lockhart, Darrel (2004): Latin American Science Fiction Writers. An A-to-Z Guide. Westport, Conn.: Greenwood.