Im Klappentext zur Erzählung Identidad suspendida von Sergio Amira aus dem Jahre 2007 findet sich der Hinweis, dies sei der erste chilenische Science Fiction-Roman überhaupt. Dass es sich hierbei um einen Irrtum handelt, lässt sich an vielen Gegenbeispielen aufzeigen – und doch hält sich in Chile überraschenderweise oft selbst bei Expert*innen hartnäckig die Auffassung, in Chile habe es vor der Jahrtausendwende keine Science Fiction-Tradition gegeben.
Oh doch, die gab es! So lassen sich mindestens 100 chilenische Werke des 19. und 20. Jahrhunderts eindeutig der Gattung Science Fiction zuordnen, darunter sogar einige Zeitschriften. Das wohl erste chilenische Science Fiction-Werk stammt bereits aus dem Jahr 1875 und trägt den Titel Una visión del porvenir! El espejo del mundo en el año 1975. Der Titel weist bereits eindeutig auf ein Zukunftsszenario hin. In dem kurzen Erzähltext finden sich dann gattungstypische Nova wie Sofortbildkameras und Luftpost. Nur zwei Jahre später erscheint das nächste chilenische Science Fiction-Werk Desde Júpiter, geschrieben von Francisco Miralles unter dem Pseudonym Saint Paul. In der Geschichte gelangt ein Chilene dank magnetischer Kraft auf den Jupiter. Dort wird er Zeuge von Forschungen, die die Bewohner*innen des Jupiters mithilfe von besonderen Fotoapparaten und Mikroskopen über die fortschrittlichen, aber auch über die rückständigen Technologien auf der Erde anstellen.
Nach diesen vielversprechenden Anfängen dauert es dann noch über ein halbes Jahrhundert, bis das Genre in Chile ab Ende der 1950er-Jahre vergleichsweise stark floriert. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden dennoch bereits vereinzelt sozialkritische Science-Fiction-Utopien (z.B. Ovalle: el 21 de abril del año 2031 von David Perry) und Weltraumabenteuer nach US-amerikanischem Vorbild (z.B. El caracol y la diosa von Enrique Araya). Eröffnet wird das sogenannte „Goldene Zeitalter“ der chilenischen Science Fiction mit der Dystopie Los altísimos (1959) von Hugo Correa, das als Kritik an kommunistischen Gesellschaften gelesen werden kann und bis heute als der wichtigste chilenische Science Fiction-Roman gilt. Weitere wichtige Autor*innen der Epoche sind Antonio Montero (unter dem Pseudonym Antoine Montagne), Armando Menedín, Elena Aldunate und Luis Meléndez. Mit der politischen und wirtschaftlichen Krise Chiles ab 1973 bricht die Produktion ein und das „Goldene Zeitalter“ endet.
Erst in den 1990er-Jahren, nach dem Ende der Pinochet-Diktatur, erholt sich die Literaturproduktion wieder: In De repente los lugares desaparecen (1992) von Patricio Manns leben die Menschen unter sterilen Bedingungen und strenger Kontrolle in einer überkuppelten Stadt namens Moob Nwot; in Flores para un cyborg (1997) von Diego Muñoz rächt sich ein chilenischer Doktorand mithilfe eines selbst programmierten Roboters an den Schuldigen der Pinochet-Diktatur; und in 2010: Chile en llamas (1998) führen der Neoliberalismus und die sensationsversessene Gesellschaft die chilenische Nation an den Rand der Apokalypse. Seit der Jahrtausendwende ist die Science Fiction-Produktion in Chile so stark wie nie zuvor – man kann man also durchaus von einem neuen „Goldenen Zeitalter“ der chilenischen Science Fiction sprechen. Zu den wichtigsten Autoren zählen aktuell Jorge Baradit, Mike Wilson, Dauno Tótoro sowie der eingangs genannte Sergio Amira. Von allen Autoren finden Sie in der Bibliothek des IAI zahlreiche Bücher. Im Filmbereich sind insbesondere der Zombie-Apokalypse-Film Solos (2008) sowie die SciFi-Komödie Chile puede (2008) hervorzuheben, in der es um den ersten Chilenen im Weltall geht. Beide Filme können Sie aus der Filmsammlung des IAI auf DVD entleihen.
Für die Interessierten lohnt sich übrigens auch ein Blick in die digitalen Sammlungen der Nationalbibliothek Chiles: Auf einer eigenen Unterseite zur chilenischen Science Fiction finden sich unter anderem ein historischer Abriss und eine Zeitleiste, eine hilfreiche Linksammlung und Bibliographie sowie zahlreiche Digitalisate chilenischer Science Fiction-Werke.