Für die chilenische Künstlerin María Verónica San Martín sind Bücher mehr als bloße Träger von Informationen. Denn Bücher und ihre materielle Gestaltung versteht sie als Gedenk- und Erinnerungsmonument; Sujet, technische Ausführung und Materialität sind in ihrer Arbeit somit eng verflochten. So auch in dem Werk „Dignidad“, das wir kürzlich für die Bibliothek des Ibero-Amerikanischen Instituts erwerben konnten. Hierin setzt sich die Künstlerin mit der im südlichen Chile gelegenen deutschen Sektenkolonie Colonia Dignidad auseinander, in der zwischen 1961 und 2005 Sektenmitglieder und deren Kinder systematisch isoliert, gefoltert und sexuell missbraucht wurden. Während der Pinochet-Diktatur richtete der chilenische Geheimdienst in der Siedlung ein Gefangenen- und Folterlager ein. Mindestens 300 politische Oppositionelle wurden auf dem Gelände gefoltert, etwa 100 Menschen ermordet.
Ihre Kunst begreift María Verónica San Martín als wichtiges Instrument zur erinnerungskulturellen Aufarbeitung dieser mit dem Wissen der deutschen Botschaft verübten Verbrechen. Gemeinsam mit Winfried Hempel, Überlebender der Colonia Dignidad und Anwalt, dem Archivo Nacional de Chile und der Asociación por la Memoria y los Derechos Humanos Colonia Dignidad erarbeitete sie die Kunstinstallation „Dignidad“, die 2018 und 2019 unter anderem in New York (Artist Space), in Santiago de Chile (Nationalarchiv) und in Den Haag (Museum Meermanno) gezeigt wurde. In dieser kombinierte San Martín Performancekunst und Skulptur mit Archivmaterialien und bis dato unveröffentlichten Tonaufnahmen, die laut Ausstellungsbeschreibung Kontakte zwischen führenden Mitgliedern der Colonia Dignidad mit nationalsozialistischen Akteuren in Peru und Deutschland dokumentieren.
Mittels dem, was sie „Politische Abstraktion“ nennt, möchte San Martín die hermetische, bis heute nachwirkende Isoliertheit der Colonia Dignidad aufbrechen und deren komplexes Repressions- und Gewaltsystem sichtbar machen. Kondensiert findet sich ihr künstlerischer Ansatz im performativen Akt „Colonia Dignidad: Dystopic Utopia“, den sie in New York und Santiago de Chile aufführte. Akustisch begleitet von den genannten Tonbandaufnahmen, entfaltete sie dort eine großformatige Skulptur aus Metallplatten. Durch die stetige Verwandlung des Materials in unterschiedliche Formen legte die Künstlerin die für die Colonia Dignidad wirkmächtigen Symbole – beispielsweise das Kreuzzeichen – offen, um diese im nächsten Schritt wieder zu dekonstruieren. Auf diese Weise könne, so San Martín, die Intersektionalität von Geschichte und der andauernden Resonanz der hinter den Symbolen stehenden Ideologien aufgezeigt und die Räume der Repression und Segregation der Colonia Dignidad neu imaginiert werden.
Diese künstlerischen Elemente finden sich auch in dem wesentlich kleineren Künstlerbuch „Dignidad“, das San Martín zur genannten Installation entworfen und ebenso wie das Kunstprojekt selbst den Desaparecidxs der Colonia Dignidad gewidmet hat. Auch bei dem Buch griff sie zu schwerem Eisen, das sie zu einer Kassette, gehalten durch offen liegende Scharniere, zusammensetzte. Die ineinandergreifenden L-förmigen Metallplatten, die als Buchdeckel und Schließmechanismus dienen, lassen die intendierte Konstruktion und Dekonstruktion politischer Symbole erahnen. Dieses Prinzip wird wiederum in den Faltbüchern aufgenommen, die neben Ausstellungsbroschüren im Innern des Eisengehäuses zu finden sind. Einmal entfaltet, geben diese Leporelli weitere Informationen zur historischen Aufarbeitung der Colonia Dignidad und dem damit zusammenhängenden Kunstprojekt.
Frontdeckel
Leporelli
Broschüren zu den Ausstellungen der Künstlerin
50 Exemplare dieses Künstlerbuchs ließ San Martín mit der finanziellen Unterstützung von Fondart, dem chilenischen Regierungsfund zur Förderung von Kultur und Künsten, herstellen. Mit dem Erwerb eines dieser Exemplare bietet die Bibliothek des IAI nun einen Einblick in derzeitige künstlerisch-erinnerungskulturellen Auseinandersetzungen mit einem Thema, dessen Aufarbeitung in Deutschland und Chile weiter andauert. Einen anderen, wissenschaftlichen Beitrag zur Aufarbeitung stellt das chilenisch-deutsche Oral-History-Archiv dar, welches in diesem Jahr unter der Leitung von Prof. Stefan Rinke am Lateinamerika-Institut der FU Berlin initiiert wurde und im ersten Projektjahr vom Auswärtigen Amt gefördert wird. Geplant sind Video-Interviews mit verschiedenen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen aus dem Umfeld der Colonia Dignidad, die in den kommenden drei Jahren transkribiert, übersetzt und für Forschung, Bildung und Öffentlichkeit aufbereitet werden sollen
Forschungsliteratur zum Thema ebenso wie einige frühere Artists Books der Künstlerin María Verónica San Martín finden Sie bei uns in der Bibliothek. Nutzen Sie für die Recherche gerne unseren OPAC oder sprechen Sie uns an!