Von Christoph Müller
Brasilien ist geprägt von faszinierender geographischer, sozialer und kultureller Vielfalt. Zwischen modernen Megacities und unberührter Natur, im Zusammenleben von Menschen mit europäischen, afrikanischen und indigenen Wurzeln, im Neben- und Miteinander traditioneller und hochmoderner Lebensweisen, Techniken und Weltanschauungen führt diese Vielfalt aber auch zu großen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Unterschieden. Unterschiede, die sich, wie die aktuelle politische Situation im Land zeigt, nur schwer überbrücken lassen.
Diese teilweise tiefe gesellschaftliche Spaltung des Landes hat in den letzten Jahren zu einer wahren kreativen Explosion besonders in den städtischen Randgebieten und in sozial unterprivilegierten Bevölkerungsgruppen geführt. Die sogenannte literatura marginal wird in Saraus, einer Art Poetry-Slam, von ihren Autor*innen präsentiert und ausgetauscht, die Musik dominiert eine sehr aktive und vielfältige Hip-Hop- und Rap-Szene, die Comic-Szene floriert zwischen Graffiti, Comics, Graphic Novels und Fanzines und im Bereich des Theaters entstanden viele kleine, alternative Bühnen und Theatergruppen, die mit neuen, den Alltag der Menschen behandelnden Stücken und Performances arbeiten. Parallel zu den Live-Auftritten sind es besonders die sozialen Medien wie Facebook, Youtube oder Instagram, mit denen viele dieser Künstler*innen ihr Schaffen öffentlich zugänglich machen. In den vergangenen Jahren wurden aber auch immer mehr Buchpublikationen und Tonträger herausgebracht, teilweise im Selbstverlag und in Handarbeit produziert, teilweise aber auch durch selbstverwaltete Verlage.
Anfang März, noch vor den Reisebeschränkungen wegen des Corona-Virus, hat einer der Fachreferenten des IAI die Gelegenheit eines Aufenthaltes in São Paulo genutzt, erste Kontakte in die alternative Literaturszene zu knüpfen und ca. 150 Publikationen für die Bibliothek zu erwerben.
Eine zentrale Anlaufstelle sowohl für Autor*innen, die ihre Werke publizieren möchten als auch für interessierte Leser*innen, die literatura marginal erwerben möchten, ist die Buchhandlung des Verlags LiteraRUA im Stadtteil Limão. Der Verlag, der von einem Autor*innen-Kollektiv um den Musiker und Autor Toni C. betrieben wird, ist eine Plattform für Straßenkunst und das literarische und musikalische Schaffen sozial marginalisierter Künstler*innen.
Eine weitere wichtige Erwerbung waren die aktuellsten Publikationen des Verlags Me parió Revolução, der aus der Zusammenarbeit von Frauenrechtsaktivistinnen um die Dichterin Dinha entstanden ist und deren politisch und feministisch inspirierte Lyrik anfangs in Handarbeit, mittlerweile in professioneller Buchdrucktechnik herausbringt.
Schließlich war es möglich, auch 20 der aktuellsten Bücher, die aus dem Sarau do Binho hervorgegangen sind, zu erwerben. Dieses regelmäßig einmal im Monat in Campo Limpo im Süden São Paulos stattfindende Treffen von Autor*innen, Künstler*innen und politischen Aktivist*innen ist einer der Referenzorte für den Austausch künstlerischer und auch politischer Positionen für die sozial marginalisierten Bevölkerungsgruppen.
Alle in São Paulo erworbenen Bücher werden der deutschen Brasilien- und Lateinamerikaforschung in Kürze zur Verfügung stehen und die Möglichkeit eröffnen, intensiver die Stimme der marginalisierten Bevölkerungsgruppen in den städtischen Randgebieten der Megacity São Paulo, wie sie sich aktuell in Literatur, Musik und Theater äußert, zu erforschen (– auch ohne reisen zu müssen).