Nachdem wir aus gegebenem Anlass im letzten Beitrag unserer Comic-Reihe den Tod des Zeichners Stan Lee thematisiert haben, möchten wir im heutigen dritten Teil ins 19. Jahrhundert zurückreisen und uns mit den Anfängen des Comics in Lateinamerika beschäftigen.
Comics im modernen Sinne haben sich in Lateinamerika als Variante der politischen Karikatur entwickelt. Diese war ab etwa 1850 in den immer zahlreicheren satirisch-politischen Zeitschriften der lateinamerikanischen Länder zu finden. Bereits die frühen Karikaturen wiesen Elemente zur Kombination von Bild und Text auf: So fanden sich sowohl erklärende Textteile am Bildrand als auch Sprechtexte im Bild selbst, wenn auch nicht in Form der heute genretypischen Sprechblasen. Über die 1860er- bis zu den 1890er-Jahren kann man in den Satirezeitschriften die schrittweise Weiterentwicklung dieser Karikaturen zu dem, was man heute als Comics bezeichnet, beobachten: An die Stelle einer statischen, meist in einem einzigen Bild karikierten Situation trat ein narratives Element: Durch die Abfolge mehrerer inhaltlich zusammenhängender Bilder wurde nun eine komplette Geschichte erzählt. Zudem etablierten sich nach und nach bereits die für Comics typischen wiederkehrenden und emblematischen Personen.
Geprägt wurde der Begriff Comic allerdings bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts, und zwar in den USA. Dort stand er in der Form comic strips zunächst für kurze, lustige Zeichengeschichten, die zuerst in US-amerikanischen und dann auch in europäischen Zeitungen veröffentlicht wurden. Als eigenständiges, boomendes Genre etablierte sich der Comic in Europa und den USA dann ab den 1890er-Jahren. Im Zuge dieser Entwicklung hat sich der Terminus Comic auch in Lateinamerika etabliert – gemeinsam mit den Begriffen historieta bzw. (historia em) quadrinhos. Obwohl comictypische Entwicklungen in der Text-Bild-Gestaltung in Lateinamerika also ebenfalls bereits stattgefunden hatten, wurde der Comic als modernes Trendgenre nun aus dem Ausland importiert. Bei den ersten lateinamerikanischen Comic-Serien handelt es sich daher meist noch nicht um eigene Figuren und Geschichten, sondern um Stoffe aus den USA oder Europa, die für das eigene Publikum adaptiert wurden. Sie erschienen z.B. in humoristischen oder satirischen Zeitschriften wie Tit-Bits (Argentinien), El Imparcial (Mexiko) oder El cojo ilustrado (Venezuela).
Etwa ab den 1910er-Jahren finden sich auch eigene Stoffe in den lateinamerikanischen Comics. Die Geschichten um das ungleiche Paar “Viruta y Chicharrón” (1912) oder um den arbeitsfaulen “Don Goyo Sarrasqueta y Obes” (1913), die in Caras y Caretas erschienen, gehören zum Beispiel für Argentinien zu den frühesten eigenen Serien. Weitere Zeitschriften, die in besonderem Maße zur Verrbeitung des modernen Comics in Lateinamerika beitrugen, sind z.B. El hogar (Argentinien), Revista Ilustrada (Brasilien), O Malho (Brasilien), El mundo ilustrado (Mexiko) oder Multicolor (Mexiko).
Die großen lateinamerikanischen Tageszeitungen nahmen – anders als etwa in den USA und Großbritannien, wo diese maßgeblich zur Etablierung des Genres beigetragen hatten – Comics erst deutlich später auf. Sie finden sich ab den 1920er Jahren z.B. in La Nación (Argentinien), El Universal (Ecuador) oder El Universal (Mexiko).
Eigenständige Publikationen von Comics in Form von Heften oder Büchern wurden in Lateinamerika je nach Land ab den 1920er bis zu den 1960er Jahren populär. Sie ebneten den Weg für so bekannte Comicfiguren wie Patoruzú, Condorito und viele weitere – doch diesen Kindheitshelden möchten wir uns ausführlicher in einem weiteren Beitrag unserer Comic-Reihe widmen.
Selbstverständlich verlief die Frühgeschichte des Comics nicht in ganz Lateinamerika gleich. Um tiefer in die Comicgeschichte einer einzelnen Region einzusteigen, bieten die Bestände des IAI eine wunderbare Grundlage: Neben den in diesem Beitrag genannten Titeln finden sie dort zahlreiche weitere Zeitschriften aus dem genannten Zeitraum. In unserem Katalog suchen Sie am besten über die erweiterte Suche: Dort können Sie Ihre Treffer unter anderem auf Zeitschriften, auf einen bestimmten Erscheinungszeitraum und auf ein bestimmtes Land eingrenzen.